Mein Name ist Thomas. Ich bin ein Mann, der homosexuelle Gefühle in seinem Leben kennt, aber auch das Interesse an der Frau. Für diesen Weg musste ich in meinem Leben gleich zweimal abbiegen und daher beginne ich meine Geschichte mal so:
Lange Zeit konnte und wollte ich mir nicht eingestehen, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle. Erst im Rahmen einer ergebnisoffenen Reflexion lernte ich, mich und meine Geschichte zu akzeptieren und eine Sprache für meine Homosexualität zu finden. Dabei erkannte ich, dass mit meinen Gefühlen etwas verbunden ist, das ich so bei anderen Männern, die auch homosexuell empfinden, nicht angetroffen habe.
Die erste Abbiegung
Die Geschichte meines Mannseins begann ab Geburt mit der Tatsache, dass ich eineiiger Zwilling bin. Doch so sehr mein Bruder und ich uns aufs Haar gleichen, in unserem Mannsein unterschieden wir uns seit frühster Kindheit. Mein Bruder war ein wilder und ich ein braver Junge. Er gehörte zur Gruppe der Jungs, spielte Fußball und ich spielte mit den Mädchen. Niemanden störte das. Vor allem nicht meinen Vater, der sich aus der Erziehung raushielt und alles meiner viel zu dominanten Mutter überließ. Ihr gefiel es, dass ich brav und anständig war, und schon bald nahm ich wahr, dass sie mich ein wenig mehr mochte als meinen Zwillingsbruder. Für meine inneren Konflikte interessierte sich aber niemand. So war es für mich nie einfach, das Anhängsel meines wilden Bruders zu sein. Denn er schlug sich nicht nur mit anderen Jungs, sondern gehörte in jeder Jungsgruppe einfach dazu. Ich dagegen stand am Rand, konnte nicht so gut Fußball spielen wie er, und die Tatsache, dass ich meist als letzter in eine Mannschaft gewählt wurde, verstärkte dies.
Ich weiß nicht wann, aber irgendwann glaubte ich, die anderen Jungs wollten mit mir nichts zu tun haben. Ich befand mich auf verlorenem Posten, und so fixierte ich mich auf meine Mutter. Von ihr erhielt ich Anerkennung, die ich weder vom Vater noch von den anderen Jungs erhielt. Allerdings auch nur so lange, wie ich mich nicht schmutzig machte und mich nicht mit anderen Jungs raufte. Betrachte ich aus heutiger Perspektive das Beziehungsgeflecht, in dem ich lebte, wird mir bewusst, warum die Scham ein ständiger Begleiter in meinem Leben war. Ich schämte mich, dass ich nicht so draufgängerisch wie andere Jungs war. Ich schämte mich, wenn ich wieder mal als letzter gewählt wurde. Ich schämte mich, wenn ich meine Mutter enttäuschte, und ich schämte mich vor meinem Vater, der sich zurückhielt und mich in Fragen meiner männlichen Identität nicht begleitete noch unterstützte. Und dann war da noch die Schule. Auch hier konnte ich mich schämen, denn ich war kein guter Schüler und brachte regelmäßig schlechte Zensuren mit nach Hause.
Durch das dauernde Schamerleben verfestigte sich in mir der Glaube, ein Versager zu sein, den niemand liebt, und mit dem keiner etwas zu tun haben will. Dagegen bewunderte ich meinen Bruder, der dazu gehörte und die Nähe von den anderen Jungs genoss. Schließlich trieb mich das ständige Schamempfinden, das ich auf meinem Mannsein, meinem Körper und meinem Handeln spürte, und das kaum auszuhalten war, in die Phantasie. Dort malte ich mir aus, wie es sich anfühlen musste, ein Junge unter Jungs zu sein, zu ihnen zu gehören, mit ihnen zu spielen und mit ihnen Abenteuer zu erleben. Ich wollte so sehr dazugehören!
Aus diesen kindlichen Phantasien wurden später erotische Gefühle, mit denen ich herauszufinden suchte, was andere Männer fühlen. Das konnte ich aber nur, wenn ich mich mit einem anderen Mann und seinem perfekten Körper, für den er sich nicht zu schämen brauchte, verschmolz. Wenn man so will, war diese Sehnsucht der Beginn meines homosexuellen Fühlens. In ihrem Mittelpunkt stand einzig der Wunsch, endlich zu den anderen Jungs zu gehören.
Um den Weg zu meinem Mannsein zu finden, musste ich das Gefängnis meiner Scham durchbrechen. Das war schwierig, denn immer wieder trieb mich das Empfinden meiner allumfassenden Scham in den Rückzug und ließ mich vor allem dann verstummen, wenn ich versuchte, Kontakt zu anderen Männern aufzunehmen. Irgendwann aber war mir klar, dass ich aus meinem Rückzug ausbrechen und die Frage stellen musste, deren Beantwortung ich fürchtete, und für die ich mich schämte, noch ehe ich sie zu stellen gewagt hatte: Wie siehst du mich? Siehst du in mir einen Mann? Darf ich dazugehören, auch wenn ich Ich bin?
Ich weiß noch, wie mich ein innerer Schmerz, ein tief von innen kommendes Weinen übermannte, als ich auf einem therapeutischen Seminar dem Leiter, der mir irgendwie väterlich erschien, diese Frage zu stellen wagte. Es war, als ob der Junge, der sein Leben lang am Rande gestanden hatte, endlich sprechen durfte.
Seitdem habe ich sprechen gelernt. Ich habe gelernt, dass ich nicht das Anhängsel meines Bruders bin, dass ich ein eigenes Mannsein habe, das ich in die Gemeinschaft mit anderen Männern einbringen darf. Noch mehr aber habe ich gelernt, in den Augen, Gesten und Worten der anderen Männer zu lesen, dass ich willkommen bin ‒ was ich heute noch nicht ganz, aber immer mehr glaube. Heute habe ich einen Ort für mein Mannsein gefunden. Er befindet sich mitten unter den Männern, deren Liebe und Achtung ich brauche und in vollen Zügen genießen darf.
Heißt das, alle meine Gefühle der Scham und der Abhängigkeit von anderen sind gänzlich verschwunden? Nein! Auch heute noch gibt es den einen oder anderen Augenblick der Scham. Nicht mehr so oft und nicht mehr so massiv wie früher. Wenn die Scham aber da ist, dann weiß ich, sie sagt nicht, lebe homosexuell. Sondern sie fragt: Welche Abbiegung deines Weges zu den Männern hast du verpasst?
Die zweite Abbiegung
Je mehr ich den Weg in reale Beziehungen zu Männern finde, desto mehr beschäftigt mich die Frage nach der Frau. Das aber ist mit einer zweiten Schwierigkeit verbunden: der Mutter. Denn noch leide ich unter der Umklammerung meiner Mutter, der ich alles recht machen musste, und bei der brav sein die einzige Qualität war, die sie an meinem Mannsein duldete.
Diese Umklammerung kann ich nicht einfach abschütteln, und manchmal, wenn ich mich mit einer Frau treffe, überfällt sie mich. Vor allem dann, wenn ich feststelle, dass die Frau irgendwelche Forderungen an mein Mannsein stellt, mache ich zu, und alle Anziehung erlischt.
Die zweite Abbiegung zu meinem Mannsein beschäftigt mich. Wie kann ich, der brave Junge, Mann für eine Frau sein? Das kann nur gelingen, wenn ich die Umklammerung meiner Mutter überwinde und lerne, aus der Freiheit meines Mannseins die Beziehung zu einer Frau zu gestalten. Unter Männern habe ich die Freiheit gefunden. Dass ich sie in der Beziehung zu Frauen finde, ist mein neuer Weg.
Mein homosexuelles Fühlen ist anders
Um meinen Weg gehen zu können, brauche ich die Akzeptanz meiner eigenen Wahrnehmung für mein homosexuelles Fühlen. Ich brauche, dass Menschen in unserer Gesellschaft akzeptieren, dass mein gleichgeschlechtliches Fühlen eine eigene Dynamik und ein eigenes inneres Fragen hat. Was ich aber nicht erlebe, ist, dass mir in unserer Gesellschaft, und oft noch nicht mal in unserer Kirche, zugebilligt wird, meine Sexualität selbstverantwortlich zu verstehen. Mich als Mann, der in seinem Leben viel mit Scham zu kämpfen hatte, bedrückt, dass ich in meinem Nachspüren wieder beschämt werde. Trotz Toleranz darf ich nicht zu meinem homosexuellen Erleben in meinem Leben offen und ehrlich stehen, ohne dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen darüber urteilen und mich und meine Entdeckungen dabei verurteilen.
Ich wünsche mir, dass es in unserer Kirche dafür einen Platz gibt. Für mich und für meine Brüder der Bruderschaft des Weges, die sich auf einem ähnlichen Weg befinden. ■