Wenn ich von meiner Homosexualität erzählen will, beschreibe ich am besten den Mann, der ich vor zwanzig Jahren war. Ich war 24 und bin gerade zum Studium in einer fremden Stadt angekommen. Erst vor einigen Monaten hatte ich eine Verlobung aufgelöst. Sie wollte am liebsten rund um die Uhr mit mir zusammen sein - und ich? Ich fühlte mich manchmal stark zu ihr hingezogen und genoss die Nähe zu ihr. Immer wieder aber gab es auch Phasen, da ertrug ich ihre Gemeinschaft keine halbe Stunde und ich musste sie wegschicken, weil ich das Gefühl hatte, sonst zu ersticken.
Ich wusste nicht recht, wer ich war: war ich überhaupt schon erwachsen, konnte man mich als Mann bezeichnen, wo wollte ich überhaupt im Leben hin? Und wo wollte meine Sexualität hin? Im Studium habe ich dann nicht wirklich Anschluss gefunden. Ich war ein menschenscheuer, beschämter junger Mann, der zwar versuchte, durch Wissen zu punkten und auch manchmal durch freche Sprüche oder Besserwisserei aufzufallen. Ansonsten hielt ich mich aber von allem fern, was mit Gemeinschaft mit meinen Kommilitonen zu tun hatte.
In den ersten beiden Jahren traute ich mich nicht, die Mensa der Hochschule zu betreten. Ich stellte mir vor, wie alle mich beobachteten, während ich unbeholfen versuchen würde, rauszufinden, wo man sich zu essen holt, wo man bezahlt und wo man sich hinsetzen könnte. Deshalb saß ich oft vor der Mensa im Freien und las Fachbücher und genoss es, wenn Kommilitonen vorbeikamen und mich dafür bewunderten, dass ich Bücher las, die ihnen zu kompliziert waren.
Aber warum war ich denn so voller Scham und in Bezug worauf? Ich empfand mich zu der Zeit als äußerst unattraktiv. Ich war unsportlich, schielte stark, war unsicher in meinem Kleidungsstil, hatte viele Leberflecken auch im Gesicht. Letztlich glaubte ich, andere könnten mich nur abstoßend und peinlich finden. Männer könnten sicherlich nichts mit mir anfangen, weil ich nichts wirklich Männliches mitbrachte in meiner Persönlichkeit - ich schämte mich ja sogar, mich in der Öffentlichkeit als Mann zu bezeichnen. Und bei Frauen war es wie schon immer mit meiner Mutter. Ich kam eher leichter mit ihnen klar - aber insbesondere dadurch, dass ich derjenige war, der ihren Empfindungen ganz viel Raum und Verständnis entgegenbrachte, während mein Mannsein in der Begegnung gar nicht stattfand und ich immer die Wahrnehmung hatte, dass solche Frauen letztlich mein Mannsein auch gar nicht ernst nehmen, sondern es peinlich finden würden.
Tief in mir hatte ich also beständig Unsicherheiten und Scham - während ich mich in den Kontakten, die ich nicht vermeiden konnte, durch Ironie und Abwertung und Intellektualisierung über Wasser hielt.
Dieser unsichere Mann war es, der sich auf Distanz dann ständig mit anderen Studenten verglich und heimlich viele von ihnen für ihr Aussehen und ihre Selbstsicherheit bewunderte. Immer wieder phantasierte ich darüber, mich solchen Männern zu unterwerfen, ihnen sexuell gefügig zu sein, was für mich eine sehr erregende Vorstellung war. Ich stellte mir nie vor, von einem solchen Mann gemocht oder begehrt zu werden. Das war für mich sowohl unvorstellbar wie auch uninteressant. Ich wollte mich meiner Minderwertigkeit ergeben und wenigstens meinem Gedemütigtsein sexuell Ausdruck verleihen - wie ich es schon in der Kindheit und Jugend oft in meiner Phantasie mit Gleichaltrigen getan hatte, die mir in vielem überlegen waren.
Zu dieser Zeit blieb es dann zum ersten Mal nicht bei Phantasien. Ich hatte jetzt im Studium ja meinen eigenen Computer mit Internetzugang und meinen eigenen Telefonanschluss. Beides nutzte ich oft viele Stunden für Pornographie und zur Anbahnung von Sexualkontakten - anstatt mich auf meine Hausarbeiten fürs Studium zu konzentrieren. Ich erlebte mich haltlos und süchtig. Nicht selten verließ ich Vorlesungen, um stattdessen in die Stadt zu gehen und in Videotheken und Sexshops nach Pornographie und Sexualpartnern Ausschau zu halten.
Und nach einiger Zeit fand ich auch unter meinen Kommilitonen einen Sexualpartner, der gleichzeitig mein Freund wurde. Er bewunderte mich tatsächlich für mein vor mir hergetragenes Wissen und meine durch Ironie vorgespielte Selbstsicherheit - während ich seine jungenhafte Art, seine Direktheit und Forschheit und gleichzeitig seine Menschenfreundlichkeit sehr bewunderte und sein Aussehen sehr begehrte.
Wir hatten viele gute Momente in der Freundschaft und insbesondere die Sexualität genoss ich sehr. Auch wenn es nie eine Sexualität der echten Nähe und Zärtlichkeit war, sondern eher damit zu tun hatte, dass ich mich irgendwie seinem Willen unterwerfen wollte - wie es meistens auch im Alltag war, wo ich kaum eigene Bedürfnisse spürte oder einbringen konnte. Während ich versuchte, es ihm recht zu machen und ihm gut zu tun, war ich endlich mal nicht in Berührung mit meiner Scham und meiner Unsicherheit. Das fühlte sich sehr befreiend an.
Gleichzeitig hielt dieses Gefühl jedoch nie an. Sobald ich für mich allein war, war die innere Angespanntheit sofort wieder da und ich suchte andere Sexualpartner, um mir selbst und meiner Scham zu entkommen. Die Freundschaft hielt mich davon nicht ab; vielmehr aktivierte sie in mir noch mehr den Impuls, das Loskommen von der Scham nicht in mir zu suchen, sondern durch das Unterwerfen unter andere, die mir stärker und attraktiver erschienen.
Zu dieser Zeit war ich auch aktives Mitglied einer christlich freikirchlichen Gemeinde. Dort habe ich zwar nicht erzählt, mit welcher Scham und welchen Unsicherheiten ich zu kämpfen hatte. Aber ich habe mich getraut, mit verschiedenen leitenden Mitarbeitern über meine Sexualität zu sprechen. Ich bin sehr froh, dass ich von allen viel Verständnis und von niemandem irgendeine Ablehnung erfahren habe. Genauso bin ich aber froh, dass niemand einfach gesagt hat: hey leb das doch alles fröhlich aus, das ist eben deine Identität, Gott will, dass du so lebst. Stattdessen wurde achtsam und interessiert hier und da das Gespräch mit mir gesucht.
Von meiner nicht-christlichen und eher chaotischen Prägung her, hätten mich moralische Forderungen sicherlich auch kaum erreicht.
Was mich dann aber richtig zum Nachdenken gebracht hat, war die Konfrontation mit der Frage, wie Gott sich mich wohl gedacht hat.
Da wurde mir klar: Gott wollte, dass ich ein Mann bin, der auch gern Mann ist, und der ja sagen kann zu seinem Körper und zu dem, wer er eben ist oder geworden ist.
Und dabei musste ich mir sehr deutlich zum ersten Mal richtig eingestehen, dass ich mich selbst abgrundtief ablehnte, zu mir selbst überhaupt nicht ja sagen konnte. Und ich realisierte, dass ich zwar Männer begehrte und mit Frauen einigermaßen klar kam; dass in mir aber sowohl gegenüber Männern wie gegenüber Frauen ein riesiges Misstrauen bestand, ich ihnen unterstellte, dass sie mich sowieso nie akzeptieren würden.
Und mir war klar: so durfte das nicht bleiben. Homosexualität hin oder her - wenn ich nur beim Sex mit Männern mal kurz meine Scham und Selbstablehnung und mein Misstrauen gegenüber anderen loslassen und vergessen konnte, dann konnte das doch keine annehmbare, lebensbejahende oder gar zukunftstaugliche Form des Lebens sein. Und so beschloss ich, Seelsorger, Berater, Therapeuten aufzusuchen, um an diesen Fragen zu arbeiten.
Es war für mich also weniger eine moralische Entscheidung gegen die Sexualität mit Männern an sich; auch wäre es in meiner Familie kein großes Problem gewesen, mich für das Leben als schwuler Mann zu entscheiden. Aber das, was ich da als Zusammenhang für mich erkannte, war für mich die klare Entscheidung, auf Sex als Flucht vor mir selbst zu verzichten und an mir zu arbeiten.
Wenn man sich nach der Erzählung oben etwas in die Person hineinversetzt, die ich damals war, liegt auf der Hand, dass ich mich auf einen schwierigen Weg einließ. Zunächst war es schon sehr schwierig, Ansprechpartner zu finden, die sich zutrauten, mich auf meinem Weg zu begleiten. Sicherlich auch deshalb, weil man gleich merkte, dass ich ein eher verschlossener, beschämter aber gleichzeitig klug tuender Mensch bin. Ich bin an Seelsorger und Therapeuten geraten, die sich die Begleitung nicht zutrauten oder andere Ansichten hatten, und solche, die mich mit schnellen Antworten zufriedenstellen wollten. Daher las ich erst einmal alles, was ich zum Thema Homosexualität finden konnte. Die Thesen zur angeborenen Homosexualität und dass meine Scham nur aus der homophoben Einstellung meiner Umgebung oder meiner internalisierten Homophobie resultierten, haben mich nie überzeugt. Dann schon eher die Ansätze, die analytisch das Aufwachsen in der Herkunftsfamilie und der peer group in den Blick nahmen und durch die erlebte Dynamik das Entstehen homosexueller Wünsche erklärten.
Mit der klaren inneren Überzeugung, dass mein abwesender Vater und die große Angst vor anderen väterlichen Personen, sowie meine schon ganz frühe Verantwortungsübernahme für meine Mutter doch dafür verantwortlich sein mussten, dass ich schwul geworden war, bin ich endlich an einen gründlich arbeitenden Therapeuten geraten.
Er hat offenbar gleich gemerkt, wie ich versuchte, mich selbst und Beziehungen zu kontrollieren und auch schon wieder dabei war, die Lösung für meine Homosexualität selbst zu kontrollieren und mir alles selbst zurecht zu erklären. Gleich in den ersten beiden Therapiestunden konfrontierte er mich mit der Frage, was denn bitte meine heutige Sehnsucht nach Sexualität mit Männern mit meinem abwesenden Vater zu tun haben soll! Schließlich begehre ich ja weder meinen Vater noch väterliche Personen. Da hatte er mich auf dem falschen Fuß erwischt und ich merkte, dass ich eigentlich noch kaum etwas von mir selbst verstanden hatte. Der Therapeut half mir, meinen Blick allmählich nach innen zu richten und wahrzunehmen, was ich denn tatsächlich fühlte. - Und da war erstmal wenig. Meine Ängste und meine Scham konnte ich mir noch kaum eingestehen. Und gleichzeitig hatte ich insgesamt wenig Zugang zu meinen Gefühlen. Im zweiten Gespräch hat der Therapeut sich einmal ganz nah auf mich und mein Gewordensein eingelassen und mir widergespiegelt, welche Gefühle in ihm entstehen, wenn er hört, wie ich so lebe und was ich erlebt habe. Voller Scham fing ich an zu lachen und konnte für den Rest der Sitzung auch nicht mehr damit aufhören. So begann für mich der Weg, durch sehr sehr viel Scham hindurch allmählich erste Zugänge zu meinen authentischen Gefühlen zu entdecken.
Und was ich da entdeckte war sehr schmerzhaft. Ich nahm wahr, in wie vielen Situationen meines Lebens ich mich so gefühlt hatte, als sei ich für andere abstoßend und peinlich und ekelerregend. Ich nahm endlich einmal in den Blick, wie oft ich mich einsam gefühlt hatte und wie sehr ich mich für mein Aussehen eigentlich schämte. Und ich realisierte allmählich, dass ich mit meiner Besserwisserei und auch mit meiner aufopfernden Art zwar ständig nach Anerkennung Ausschau gehalten hatte; dass ich echte Zuneigung von Menschen, die es in meinem Leben auch gegeben hat, aber nie wirklich an mich rangelassen hatte. Zu groß war mein Misstrauen gewesen.
Eine wesentliche Bewegung geschah in mir, als ich damit begann, ehrlich auf das zu schauen, was tatsächlich war und wie es mir tatsächlich ging. Und das bedeutete für mich zunächst ganz besonders, Trauer zuzulassen und Orte des Trostes zu finden. Dies bezog sich nicht nur auf die Erfahrung von sehr viel Mangel in meiner Biographie, sondern dann auch auf konkrete Schamerlebnisse in meinem Alltag und da ganz besonders auch auf den Umgang mit meinem männlichen Körper. Ich musste lernen, meinen Körper mit seinen Stärken und seinen Schwächen auszuhalten und zu akzeptieren. Zunächst erschien es mir lächerlich, mich zum Beispiel ganz auf den Schmerz einzulassen, den ich in Bezug auf mein Schielen empfand. Schließlich sei das doch nicht so wichtig, schließlich ginge es doch um innere Werte, sowieso liebte mich Gott doch auch so. Doch ich merkte, dass ich mich in aller Ernsthaftigkeit auch solchem Schmerz stellen musste, wenn ich das Thema und meinen Körper wirklich integrieren wollte. Und tatsächlich stellte ich nach 4-5 Monaten, in denen die Schwächen meines Aussehens stark in meinem Fokus waren und ich viele Tränen darüber geweint hatte, fest, dass ich mehr und mehr kein Interesse mehr daran hatte, mich mit dem Aussehen anderer, scheinbar überlegener Männer zu vergleichen. Im Gegenteil blieb es auch gegenüber starken und attraktiven Männern in mir ruhig - und ich entdeckte sogar, dass mein Körper mit seinen muskulösen Beinen und einem guten Körperbau tatsächlich auch eine Schönheit hat und für andere attraktiv sein kann. Über die neue Wahrnehmung meines Körpers lernte ich dann auch, Zuwendung und Komplimente von anderen an mich heranzulassen und ernst zu nehmen.
Bei der Wiederentdeckung meiner eigenen Gefühle war es für mich dann besonders wichtig, auch meine eigenen Aggressionen zu entdecken und zu integrieren. Ich hatte früher gelernt, alle solche Empfindungen zu unterdrücken und zu verbergen und war lange Zeit stolz darauf, scheinbar keine eigenen Aggressionen zu haben. Nun aber entdeckte ich mehr und mehr, wie sehr ich auf passive Art und mit ständigen inneren Vorwürfen innerlich sehr aggressiv war. Es war befreiend, allmählich zu diesen Aggressionen zu stehen und zu lernen, sie auch angemessen auszudrücken. Das verlieh mir in meiner eigenen Selbstwahrnehmung plötzlich sehr viel Standfestigkeit. - Und ich merkte, dass ich andere Männer für ihre Aggressivität nicht mehr ablehnen musste. Gleichzeitig verlor sich aber auch die drängende Sehnsucht, mich aggressiven, dominanten Männern unterwerfen zu wollen. Klar blieben Phantasien darüber noch längere Zeit wirkungsvoll und haben mich erregt, wenn ich bewusst Erregung aufgesucht habe. Gleichzeitig war es aber kein Thema meines Alltags mehr, mich an solchen Männern emotional abzuarbeiten.
Auf diesem Weg wurden meine homosexuellen Empfindungen mir immer unwichtiger. Sie traten in den Hintergrund. Gleichzeitig hatte ich aber auch keine stabilen Gefühle für Frauen. Ich konnte sie zwar begehrenswert finden und es mittlerweile genießen, wenn ich für sie begehrenswert war. Aber in Beziehungen passierte es mir noch schnell, dass ich mich wie gegenüber meiner Mutter fühlte: dann war plötzlich alles in mir kalt und distanziert und verschlossen und ich habe nur noch funktioniert, um die Bedürfnisse der Frau zu befriedigen.
Daher musste ich mich sehr intensiv auch mit der sehr abhängigen Beziehung mit meiner Mutter auseinander setzen und da die symbiotische Bindung lösen und mein falsches Frauenbild bearbeiten, um auch Frauen gegenüber erleben zu können, dass ich Ich selbst bleiben kann und mich wohl fühlen kann - auch dann, wenn die Frau eigene Gefühle und Bedürfnisse in das Miteinander einbringt. Das war noch einmal ein längerer auch schmerzhafter therapeutischer Prozess, der mich aber tatsächlich mit den Frauen versöhnt und mir eine schöne Beziehung zu einer tollen Frau beschert hat.
Nachdem diese Beziehung dennoch durch einen Konflikt von ihr beendet worden war, hatte ich lange darauf gehofft, noch die Richtige für mich zu finden, eine eigene Familie zu gründen und als Ehemann und Vater vieles besser zu machen, als ich es bei meinem Aufwachsen erlebt hatte.
Nun bin ich aber seit langer Zeit in der Seelsorge und Beratung tätig und bin auf diesem Weg zu einer väterlichen Person für viele geworden. Diese Berufung hat mich bei meiner Suche nach einer Frau so lange gehindert, bis ich mir eingestehen musste, dass in meinem Herzen eigentlich gar kein Platz mehr war für eine eigene Familie. Die Menschen, die ich begleite, nehmen nicht nur zeitlich, sondern auch in meinem Herzen so viel Raum ein, dass ich darin erlebe, wie viel ich geben und bewirken kann und wie sehr Beziehung zwischen Menschen heilsam wirken kann. Nach all den Jahren der inneren Einsamkeit und Beschämung habe ich so in dieser Berufung meine Heimat, meinen Sinn, mein Glück gefunden.
Ich bin mir, auch nach intensiven Gesprächen mit einem vertrauten Priester, daher sicher, dass Gott mich durch meinen Lebensweg letztlich gesegnet hat und mich auch Segen für andere sein lässt. Das heißt für mich aber auch, dass Gott mich dazu berufen hat, für die Menschen da zu sein, die ähnliche Brüche und Konflikte in ihrer Identität erleben, und dafür auf die Gründung einer eigenen Familie und damit auch auf Sexualität zu verzichten.
Damit ich auf diesem Weg glücklich bleibe, werde ich in meiner katholischen Kirchengemeinde und in der Bruderschaft des Weges sehr gut geistlich begleitet und lebe in einer tollen Wohngemeinschaft, die mir viel Freundschaft und Herausforderung bietet.