Ralf swap_horiz

Lange Zeit wusste ich es nicht. Schon früh zogen mich liebevolle, sanfte und vor allem Männer an, denen ich Potenz zurechnete. Dabei wusste ich nie, ob meine Wahrnehmung stimmte. Denn Auslöser für diesen Glauben war allein die Kleidung, die diese Männer trugen. Eine Jeans, bei der das Geschlechtsteil irgendwie betont wurde. – Dann gab es auch Zeiten in meinem Leben, in denen diese Anziehung keine Rolle spielte. Ich denke da zum Beispiel an meine Zeit bei der Bundeswehr. Ich war 21 Jahre alt und in meine zukünftige Frau verliebt. Ich empfand ausschließlich heterosexuell und das blieb bis zu meinem 29. Lebensjahr so. Erste homosexuelle Gedanken tauchten danach im Zusammenhang mit meinem Beruf auf. Die Auslöser waren Stress und die Angst, einen Fehler zu machen. Versagen war für mich schlimm. Schon bei kleinsten Fehlern verfiel ich in einen Selbsthass, fühlte mich minderwertig und – ehrlich gesagt – auch impotent. In solchen Situationen fiel mein Blick wieder auf Männer, die potent und breitbeinig im Leben standen.

Ich verstand mich nicht und noch weniger wusste ich, was ich war: „homosexuell“ oder „heterosexuell“. Erst nachdem ich die Hilfe eines Beraters in Anspruch genommen und Worte für das gefunden hatte, was mich in Zeiten des „heterosexuellen“ und „homosexuellen“ Fühlens bewegte, wurde mir klar: Nicht meine Sexualität war das Problem, sondern eine Verletzung in meinem Mannsein.

Heute weiß ich, dass mein homosexuelles Verlangen unmittelbar mit dem Empfinden von Versagen und Selbsthass zusammenhängt. Den Selbsthass aber habe ich mir nicht ausgesucht. Er wurde mir von meinem Stiefvater eingebläut. War es mein Verhalten bei Tisch oder waren es meine Schulleistungen: er vermittelte mir immer, dass ich ein Versager und in seinen Augen kein richtiger Mann bin. Im Gegenzug entwickelte ich einen tiefen Hass auf diesen gefühllosen, brutalen und rücksichtslosen Mann. Und als ich mir schwor, ihm zu beweisen, dass ich kein Loser bin, fand ich eine Lösung, von der ich mir lange Zeit in meinem Leben Erlösung für mein Mannsein versprach. In der Folge definierte ich mich ausschließlich über meinen schulischen Erfolg und hielt mich fern von irgendwelchen Beziehungen zu Männern, die mich verletzen konnten.

Zwar fühlte ich mich besser, wenn ich mich ganz und gar auf meine Leistungen konzentrierte, doch hatte mir diese ständige Abwertung durch den Stiefvater den Blick auf mein eigenes Mannsein verstellt. So schlugen seine verbalen Verletzungen auf meinen Körper durch, und ab der Pubertät empfand ich mich völlig unattraktiv und abstoßend. Spätestens jetzt war der Hass auf mich selbst in mir zu seiner vollen Entfaltung gekommen.

Erst in der Beratung verstand ich, dass sich dasselbe Empfinden im Augenblick von beruflichem Misserfolg einstellte. Kritisierte jemand meine Leistung, dann stürzte ich von einem Augenblick zum anderen in eine Depression und überwältigenden Selbsthass. Meine einzige Lösung war, meinen Schmerz in erotisches Begehren nach solchen Männern zu verwandeln, die Männlichkeit und Potenz ausstrahlten.

Was zu tun war, lag auf der Hand. Ich musste meinen Selbsthass überwinden und ein Bewusstsein dafür ausprägen, dass ich auch dann ein echter, wirklicher Mann war, wenn ich einen Fehler machte. Das war leichter gesagt als getan. Denn als ich diesen Zusammenhang zum ersten Mal erkannte, hatte ich mir ein Leben aufgebaut, das auf dem Gesetz von Selbstsicherheit durch Leistung und Erfolg basierte. In diesem Konzept hatten weder Versagen noch Beziehungen zu Männern einen Platz. Denn ihnen konnte ich nicht vertrauen. Ich wollte alles selbst im Griff behalten. Lange redete ich mir ein, dass ich dieses Konzept nicht in Frage stellen durfte. Denn es garantierte mir Erfolg. War ich auf der Erfolgsspur, dann stieg mein Selbstwert an und ich empfand heterosexuell. Warum also sollte ich dieses Erfolgsmodell in Frage stellen?

Ich musste noch viele Male, ausgelöst von kleinen Kränkungen im Beruf, in Selbsthass und Depression fallen, bevor ich mich langsam und misstrauisch auf ein anderes Konzept einlassen konnte. Kennengelernt habe ich dies bei einem ergebnisoffenen Männerseminar. Dort sah ich mich zum ersten Mal Männern gegenüber, die mir Hilfe anboten und mich nicht meinen selbstzerstörerischen Gedanken überlassen wollten. Durch das Erleben dieser Männergemeinschaft reifte in mir die Erkenntnis, dass ich mich nicht alleine aus eigener Kraft von meinem Selbsthass befreien konnte. Ich brauchte das Angesicht, die Bestätigung und den Zuspruch von Männern.

Als ich in Beziehungen zu anderen Männern zum ersten Mal begann, Zuspruch für mein Mannsein zuzulassen, tat das sehr weh. Denn ich spürte einen Schmerz in mir aufsteigen, in dem sich Misstrauen und Verletzung, Abwehr und die Sehnsucht nach Annahme abwechselten.

Ich wusste, ich muss auf diesem Weg langsam machen. Was mir daher half, war die Gefährtenschaft und Freundschaft zu einem Mann, den ich in Momenten aufsteigenden Selbsthasses kontaktieren konnte. Als ich über Monate hinweg lernte, diesem Mann zu vertrauen, stellte sich in mir eine Entspannung ein. Der Schmerz ließ nach, und eine Gewissheit stieg auf, die ich so noch nie in meinem Leben gespürt hatte: Ich war nicht allein.

Diese Gewissheit war aber nicht ein Wissen in meinem Kopf. Ich fühlte es als eine emotionale Wahrheit. Jetzt endlich hatte ich einen Weg aus dem Selbsthass und dem Alleinsein gefunden, vor allem aber aus dem Misstrauen gegenüber anderen Männern. Meine homosexuellen Phantasien hatten damit als Krücke ausgedient.

Bin ich „homosexuell“ oder „heterosexuell“? Heute weiß ich eines: Die Homosexualität hatte in meinem Leben die Funktion, die Bestätigung zu ersetzen, die ich von väterlichen Männern nicht erhalten habe. Nun aber, da ich weiß, dass ich anderen Männern nicht mehr misstrauen muss, kann ich ihre Zuwendung und ihre Hilfe als einen neuen Weg zu mir selbst und zu meinem Selbstwert erleben. Ich bin in der Bruderschaft des Weges, weil ich weiß, dass meine Verletzung tief reicht und weil mich das Leben gelehrt hat, dass mir die emotionale Beziehung zu Männern hilft, mich selbst zu finden und mich selbst anzunehmen.