Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann fällt mir auf, dass ich sehr im Kontext von Erwachsenen groß geworden bin. Vielleicht war ich deshalb auch schon immer etwas erwachsener als meine Mitschüler. Jedenfalls wuchs ich in einer für einen Jungen traumhaften Umgebung auf: Wir wohnten auf einer Burg. Dort betrieben meine Eltern ein Restaurant. Wer nun eine Geschichte von fiesen Eltern erwartet, der täuscht sich. Mein Vater hat sehr viele Jungen-Dinge mit mir gemacht. Das fand ich schön. Wenn ich heute zurückdenke, dann habe ich das genossen.
Von meinem heutigen Standpunkt fällt mir aber auch auf, dass mein Vater zwar viele schöne Dinge mit mir gemacht hat, aber was mir fehlte, war, dass er mich in meinen Gefühlen verstanden hätte. So hörte ich von meinem Vater die Botschaft: „Ich bin für dich da, aber verstehe dich nicht!“ Der erste Riss in meiner Kindheitsidylle kam, als ich während des Dreiradfahrens zu meiner Mutter, die das Unternehmen irgendwie störte, unvermittelt „Arschloch“ sagte. Mein Vater, von dem ich mir Unterstützung gegen die mütterliche Einmischung erhoffte, sperrte mich aus dem Burghof aus. So hörte ich von meinem Vater zum ersten Mal die Botschaft: „Ich bin für dich da, aber verstehe dich nicht!“
Auf diese Erfahrung reagierte ich mit Verwirrung, die ich erst heute richtig deuten kann. So weiß ich heute, dass mein Vater eine Art Romantiker war. Zwischen uns ging alles gut, solange ich seine Bedürfnisse erfüllte. Als er aber für mich da sein sollte, fehlte ihm jede Einfühlung in meine Jungenwelt. In mir bildete sich der Satz aus: „Ich darf nur da sein, wenn ich so funktioniere, wie es Papa passt.“
Wer aber ich in meinem Mannsein bin, und dass es eine Sehnsucht in mir gab, in meinem Mannsein gesehen und ernstgenommen zu werden, das sah er nicht.
Verstärkt wurde das Ganze in dem Moment, als wir von der Burg wegzogen. Bislang war mein Umfeld geprägt von Erwachsenen und viel Alleinsein, vor allem während die Eltern arbeiteten. Jetzt musste ich nicht nur nach der Schule im Betrieb der Eltern helfen, sondern war konfrontiert mit einem neuen Umfeld. Das bestand vor allem aus anderen Kindern, Gleichaltrigen, deren Dialekt ich nicht verstand, weshalb ich mich ausgegrenzt fühlte. Aber auch dies Leiden interessierte meinen Vater nicht. Er regelte alles nach dem Prinzip der „Harmonie“. Wieder erlebte ich: Ich werde bestärkt, solange ich seine Harmonie nicht störe.
Zur Störung der Harmonie kam es allerdings, als ich im elterlichen Betrieb mithalf. Dort klappte natürlich nicht sofort alles. Das machte meinen Vater ärgerlich. Und während er den Lehrlingen alles sorgfältig erklärte, sollte ich alles schon verstanden haben. Das Bild des Vaters, der mich nicht versteht, brannte sich jetzt in mich ein. Immer stärker wurde in mir der Glaube: Ich darf nur ich selbst sein, wenn ich funktioniere. Die Frage, was mein Mannsein ist oder ausmacht, blieb dabei unbeantwortet.
Wie ging es mir mit anderen Jungs?
Auch dort erhielt ich keine wirkliche Bestätigung für mein Jungesein. – Denn erstens war ich inzwischen so passiv und in meinem Jungesein verunsichert, dass ich gar nicht wusste, wie man zu anderen Jungs Kontakt aufnimmt, oder wie man sich in die Gruppe der Jungs einbringt. So wartete ich unsicher am Rande der Jungsgruppe darauf, von ihnen eingeladen zu werden. Doch die Einladung blieb aus. Das daraus resultierende Alleinsein und Ausgegrenztsein war aber so schlimm, dass ich auf das Muster zurückgriff, das ich mit meinem Vater praktizierte: Funktioniere und du bist beliebt. Das tat ich und ließ mich als Klassensprecher oder als Retter für die Interessen der anderen Jungs einspannen. D.h., ich ließ mich ausnutzen und wurde mit ein klein wenig Zugehörigkeit belohnt. – Und so geschah es, dass ich von den Jungs beinahe die gleiche Botschaft hörte, wie von meinem Vater: „Wenn du für uns da bist, bist du ok!“ Wenn es aber um Dinge des Jungeseins ging, dann gehörte ich nicht dazu!
Wieder blieb die Frage meines Mannseins unbeantwortet
Irgendwann kam dann auch die Homosexualität ins Spiel. Das begann aber ganz anders. Meine Eltern stritten sich nachts oft. Meist ging es dabei um mich, was so viel hieß, wie: Ich bin eben ein Problem. Irgendetwas an mir ist nicht richtig. Warum sonst würden sich die Eltern wegen mir streiten? Als ich diese Streitigkeiten bewusst wahrnahm, verzog ich mich vor den Fernseher und schaute mitten in der Nacht irgendwelche softpornographischen Sendungen. Zum ersten Mal wurde die Sexualität etwas, das mich beruhigte, bzw. wo ich kurze Zeit Entlastung fand. In diesen pornographischen Streifen entdeckte ich den Mann, und ich spürte in mir den Wunsch, mich genau einem solchen Mann zu unterwerfen. Als ich zum ersten Mal dieser Phantasie in mir Raum gab, war ich von einem tiefen Gefühl der Annahme erfüllt. Und zum ersten Mal konnte ich so das beklemmende Gefühl, am Rande zu stehen und nicht o.k. zu sein, überwinden.
Um dieses erleichternde Gefühl zu mehren, begann ich mit Streifzügen im Internet. Dort fand ich homoerotische Geschichten von Jungs, die Außenseiter waren, die keiner verstand und wollte. Mit ihnen konnte ich mich identifizieren und von der Annahme durch einen starken Mann träumen. Oft spielte in den Träumen auch Schmerz eine Rolle und Unterwerfung. In der Unterwerfung war ein Geheimnis eingelagert: Ich konnte mich den Maßstäben eines Mannes unterordnen und zum ersten Mal gleichzeitig für mich als Mann Gefühle der Nähe empfangen. D.h., ich habe in meiner Sexualität meine Angst vor Ablehnung und Zurückweisung mit meiner Sehnsucht nach Nähe versöhnt. Letztlich war das mein Weg in die Homosexualität.
Verstärkt wurde diese Form des homosexuellen Begehrens durch ein Erlebnis, das ich mit circa 17 Jahren hatte. Ich war Mitglied in einem Schwimmverein. Eines Tages balgte ich mich mit einem älteren Jungen meines Vereins beim Baden im Baggersee. Als wir danach unter die Dusche gingen, setze er das Herumtollen fort und wurde dabei sexuell übergriffig. Ich ließ es zu, denn ich fühlte mich trotz der Grenzverletzung irgendwie angenommen, erlebte Lust und Entspannung und dachte: „Er mag mich! Da ist ein Mann, der an mir Interesse hat!“ Als er mich nach dieser Begegnung links liegen ließ, fühlte ich mich zwar benutzt und weggeschmissen, aber zugleich passte das ganze Erleben zu dem, was ich bereits in meiner Phantasie durchgespielt hatte: Nähe um den Preis der Unterwerfung.
Wer aber ich in meinem Mannsein war, blieb damit weiter verborgen. Mehr noch: Die Erfahrung plus die sexuellen Phantasien beförderten in mir das Empfinden eines Zwiespalts: Auf der einen Seite wiederholte ich in Gedanken und Träumen ein ums andere Mal die Situation unter der Dusche. Auf der anderen Seite war da aber auch der Wunsch und die Lust nach einer Freundin.
Mit circa 24 Jahren gestand ich mir ein, dass mit mir etwas nicht stimmen kann. Ich informierte mich bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über Sexualität, kam natürlich schnell auf das Thema Homosexualität und zu dem Entschluss, „ich muss wohl schwul sein“!
Mit diesem Entschluss verstärkte sich in mir auch der Wunsch, dass ich mehr wollte, als nur einem alten Erlebnis träumerisch nachzuhängen, oder im Internet nach virtuellen Abenteuern zu suchen. Ich wollte reale Geschichten erleben. So kam es zum ersten Date, bei dem ich mich wieder von einem Mann benutzen ließ. Danach spürte ich zwar, dass es nicht um mich ging, was mich aber nicht abschreckte, sondern meinen Hunger nach weiteren Erfahrungen verstärkte.
Als ich zwei Jahre später zum Studium in eine größere Stadt gezogen war, mehrten sich meine Erfahrungen. Auslöser, mich auf solche abwertenden Erfahrungen einzulassen, war der Druck, den ich im Studium empfand: Ich musste funktionieren. Und indem ich versuchte den hohen Ansprüchen des Studiums gerecht zu werden, wusste ich nicht, wie ich mit meinem Stress umgehen sollte. Mein einziger Weg war die Sexualität. Tagsüber war ich so an der Uni, und kaum zuhause fand ich mich vor dem PC, ließ meinen Unterwerfungs- und Nähephantasien in sadomasochistischer Pornografie freien Lauf oder verabredete mich zu einem realen Date. – In all dem fühlte ich mich beschämt und doch geborgen und immer tiefer in diese Phantasiewelt, in der ich Nähe durch Unterwerfung inszenierte, hineingezogen.
Wer aber ich in meinem Mannsein bin, das verstand ich nun gar nicht mehr. Ich ekelte mich vor mir selbst, vor dem, der ich war und was ich tat, und gleichzeitig war es die einzige Möglichkeit, zu funktionieren und den Schmerz versagter Nähe und Akzeptanz zu betäuben. Es wurde fortan zu meiner „Schmerztablette“.
Die Wende, der Glaube
Wer jetzt denkt, ein Gebet und alles wurde gut, der täuscht sich. - Nein. Mit ca. 28 Jahren setzte ich mich mehr und mehr mit dem christlichen Glauben auseinander. Das machte meine innere Situation nicht wirklich einfacher. Für mich erschien die Bibel eindeutig. Aber wie konnte das mit meinem Leben zusammenpassen? Gespräche mit Pastoren oder christlichen Leitern, denen ich mich anvertraute, waren wenig hilfreich. Ich hatte nicht das Gefühl, verstanden zu werden.
Zumeist wurden Themen des Glaubens angesprochen, oder es wurde für mich gebetet. Das fühlte sich zwar warm ums Herz an, hatte aber keinen nachhaltigen Effekt. Auch hatte ich das Empfinden, dass die meisten Menschen in der Kirche mit dem Thema Sexualität oder Homosexualität überfordert waren. Den eigentlichen Schmerz und meine Einsamkeit, die ich in der Sexualität verhandelt habe, berührten sie nicht.
Im Jahr 2002 war ich durch Zufall während einer christlichen Großveranstaltung in einem Vortrag zum Thema Homosexualität. Ein Mann berichtete dort aus seinem Leben, den Verletzungen aus seiner Kindheit, seinen homosexuellen Empfindungen (die er nicht mehr auslebte), seiner Familie und seinem christlichen Glauben. Er erzählte, dass er in seinen homosexuellen Beziehungen nach seinem Mannsein Ausschau gehalten hatte. Aber auch für ihn blieb diese Frage unbeantwortet. - Diese Begegnung sollte mein Leben verändern: Da erzählte ein Mann „meine“ Geschichte. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Empfinden, verstanden zu werden.
In der Lebensgeschichte des Mannes konnte ich mein Erleben von Ablehnung, aber auch die Sehnsucht nach einem Leben in Beziehung zu einer Frau wiederentdecken. In mir kam die Hoffnung auf, dass ein Mensch mit dieser Lebensgeschichte sich in meine Fragen, Zweifel und Sehnsüchte einfühlen könnte. Viel mehr noch aber habe ich verstanden, dass es für meine Unsicherheiten, meine Fragen, Worte gibt, um diese auszudrücken. Ich traute mich, auf diesen Mann zuzugehen, und wurde dadurch auf Menschen aufmerksam, die Hilfe anboten, und habe mich auf den Weg gemacht, mein Mannsein zu entdecken.
Ich durfte durch ergebnisoffene Beratung, in Begegnungen mit Männern und auch in einer Weiterbildung zum psychologischen Berater mehr und mehr verstehen, wer ich als Mann bin. Ich habe verstanden, warum ich meine Schmerztablette gebraucht habe, was ich in der Idealisierung von Männern gesucht habe. Ich habe Worte gefunden für meinen Schmerz und die Einsamkeit, habe Fragen gestellt und Antworten dafür gefunden, was mein Mannsein ausmacht. Meine Schmerztablette brauche ich heute so nicht mehr. Stattdessen habe ich gelernt, meine Gefühle und Bedürfnisse in Beziehungen auszudrücken. Gelungen ist mir das, indem ich angefangen habe, mich selbst wieder wahr zu nehmen, mich zu spüren. Emotionen auszudrücken, wurde mir möglich, und meine Probleme aber auch meine Wünsche zu artikulieren. Mit der Zeit merkte ich, wie sich mein Leben dadurch innerlich ordnete. Stress bzw. herausfordernde Situationen konnte ich durch die neu gewonnene innere Klarheit mit der Zeit meistern, ohne meine Schmerztablette einnehmen zu müssen. Ich habe angefangen, mich auf mein Gegenüber zu beziehen. Dabei wurde mir bewusst, wie wenig ich früher in der Lage war, von anderen zu lernen, bzw. mich zu integrieren. In der ergebnisoffenen Beratung begegnete ich Menschen, die mir halfen, mich selbst zu verstehen und handlungsfähig zu werden, meine inneren Krisen zu verstehen, Worte zu finden, um sie auszudrücken und dann schlussendlich auch zu bewältigen. Immer mehr habe ich verstanden, welches unbewusste Programm ich gelebt hatte und wie es in mein Leben gekommen ist. Ja, dass ich selbst in meiner Sexualität dieses Skript immer wieder inszeniert hatte. Je mehr ich aber aufhörte, nach den alten „Regeln“, die über meinem Leben ausgesprochen waren, zu leben, desto schwächer wurde mein Drang, meine Einsamkeit und meine Unsicherheit durch Sexualität zu betäuben.
Meine homosexuellen Empfindungen und der Drang nach SM-Begegnungen haben sich mit den Jahren verringert. Je sicherer ich in mir als Person wurde, desto mehr ist auch wieder der Wunsch nach einer Partnerin, nach Familie in mir wach geworden.
Heute bin ich 44 Jahre alt, habe eine wunderbare Frau an meiner Seite und darf Sexualität und Intimität als ein wunderbares Geschenk erleben.