Ich bin Dario. Ein Mann über 40, gläubig, mit homosexueller Empfindung.
Ja, und..? Warum sollte ich darüber schreiben und Anderen etwas erzählen?
- Weil ich Menschen Mut machen möchte.
- Weil ich will, dass meine Lebensgeschichte dazu beiträgt, auch mal eine andere Geschichte zu Gehör zu bringen, als immer nur "Wir sind Schwul, wir sind glücklich!"
- Weil ich die Hoffnung erlebe, mein Leben so gestalten zu können, dass es erfüllend und authentisch ist.
- Weil ich als gläubiger Christ eine lebendige Beziehung zu Gott habe und darin erkenne, dass mein Leben gerade dann gelingt, wenn ich mich an der biblischen Wahrheit orientiere.
Meine homosexuellen Empfindungen kenne ich jetzt schon seit über 30 Jahren. Sie entstanden durch meine Unfähigkeit, Beziehungen aktiv zu gestalten und ein schlechtes Selbstwertgefühl. Angefangen hat das bereits in der Kindheit, wo ich alles getan habe, um niemandem Anlass zu geben, mich zurückzuweisen. Immer habe ich versucht es Anderen recht zu machen und zu erraten was sie von mir wollen. Dem habe ich mich dann angepasst, ja geradezu unterworfen. Eigene Wünsche und Bedürfnisse hatten da keinen Platz und irgendwann habe ich sie auch gar nicht mehr wahrgenommen.
Im Kreis der Gleichaltrigen tat ich mich schwer, mich als Teil der Gruppe zu fühlen. Irgendwie gehörte ich nicht dazu. Ich konnte mich nicht einlassen, fühlte mich ausgegrenzt und abgelehnt. Freunde hatte ich nicht und auch in der Jungschar war ich nur geduldeter Mitläufer. Die Sehnsucht danach, mein Mannsein zu entdecken und Zugehörigkeit zu den gleichaltrigen Jungs zu erleben, mündete in einen tiefen Schmerz, weil ich es nicht hinbekam. Diesen Schmerz habe ich durch die Flucht in Phantasiewelten betäubt.
Durchbrochen wurde es, ich war gerade mal 11 Jahre alt, als ein etwas älterer Junge sich plötzlich für mich interessierte. Er hat meine unerwachte Sexualität geweckt und benutzt. Ich habe das als ein Interesse an mir und meiner Person verstanden und gemeint, jetzt doch dazuzugehören. Darum habe ich mich eingelassen und er hat mir gezeigt, wie Sexualität funktioniert. Dabei waren für ihn mein Körper und meine wachwerdende Sexualität reizvoll, ich aber als Mensch war Nebensache.
Damals habe ich gelernt, dass ich über den Sex mit Männern die fehlende Bestätigung meines Mensch- und Mannseins eben doch bekommen kann. Also habe ich angefangen, meine innere Einsamkeit und mein Alleinsein über sexuelle Phantasien und bald tägliche Selbstbefriedigung zu betäuben. Am Anfang noch vereinzelt und zufällig, später immer häufiger und gezielt, habe ich den Sex mit Männern gesucht. Jedoch nicht, weil ich es als befriedigend und schön erlebte, sondern in der Sehnsucht nach Bestätigung, Annahme und Identität. Es ging bei mir darum, mich selbst, meinen Körper, durch den Anderen zu spüren, gespürt zu werden. Durch Sexualität wurden mein betäubtes Körpergefühl und die illusorischen Sehnsüchte befriedigt, wenn auch nur für den Augenblick. Denn wenn es vorbei war fühlte ich mich leer und ausgebrannt. Wenn es gut war kam die Gier nach mehr, wenn es weniger gut war die Hoffnung, dass es beim Nächsten wieder besser ist. Für mich ist Sex und Pornografie eine Sucht, die nicht befriedigt. Wie ständig essen zu müssen ohne satt zu werden und zu trinken ohne dass der Durst irgendwann einmal gestillt ist.
Obwohl ich über die Jahre mit hunderten von Männern Sex hatte, konnte ich lange nicht über meine sexuellen Gefühle reden, geschweige denn über meine Unsicherheit und Angst vor Beziehungen.
Denn Beziehung verursachte inneren Stress, das Gefühl, es immer recht machen zu müssen und ja nichts falsch zu machen. Die Angst vor Zurückweisung und Ablehnung war immer mein Begleiter. Daher war es mir auch nicht möglich, wirkliche Nähe oder emotionale Bindung zuzulassen.
Sexualität und Beziehung erlebe ich nicht als etwas zusammengehörendes, sondern es sind für mich zwei völlig getrennte und unabhängige Dinge, die ich nicht zusammen bringe. Beziehung empfand ich als etwas gefährliches, das mich vernichten kann. Sexualität dagegen als Mittel zur Bestätigung meines brüchigen Mannseins.
Dass sich meine Beziehungsunfähigkeit auch in meinem Alltag wiederspiegelt, wurde mir erst in den letzten Jahren langsam bewusst. Aufgrund meines Engagements in der Jugendarbeit, der Mitarbeit im CVJM und meiner Kirchengemeinde hatte ich doch Beziehung zu vielen Menschen. Wenn ich aber genauer hinsehe merke ich, dass es nur oberflächliche zwischenmenschliche Kontakte waren, ich mich aber auf die Menschen nie wirklich einlassen konnte. Daraus folgete innere Einsamkeit, Rückzug und Selbstabwertung.
Diese innere Verlassenheit hat bereits im Teenageralter zu den ersten Depressionen geführt, die dann mein Leben begleitet haben. Die Ohnmacht nichts dagegen tun zu können und das Gefühl alleine dazustehen hat immer wieder zu intensiven Selbstmordgedanken geführt.
Ich habe nach Hilfe gesucht, aber meine seelische und innerpsychische Not wurde dabei gar nicht erst gesehen. Die einen haben mich durch Achselzucken oder einem „Das legt sich wieder“ im Stich gelassen. Ein christlicher Therapeut hat mir klar gemacht, dass die homosexuellen Empfindungen nicht zu ändern sind, er mir aber helfen wird „meine Gefühle zu unterdrücken, so dass ich sie nicht ausleben muss“. Wäre ich nicht schon depressiv gewesen, wäre ich es dabei mit Sicherheit geworden. Freunde aus dem charismatischen Umfeld wollten mich „freibeten“. Wenn dein Glaube groß genug ist, wird dich Gott freimachen. Ein verlockendes Angebot, wollte ich doch den inneren Druck loswerden, die Einsamkeit, das verlassen sein und diese Sünde der Homosexualität. Doch ich spürte, dass diese Aussage so nicht stimmt, denn dann ist nicht Gott derjenige, der wirkt, sondern es hängt davon ab, dass ich es richtig machen muss.
Auf der anderen Seite wurde mir klar gemacht, dass ich zu meiner Sexualität stehen und sie annehmen muss. „Hätte Gott gewollt, dass du Hetero bist, hätte er dich doch so geschaffen.“ „ Lebe deine Sexualität so wie du sie fühlst. Wenn das bedeutet viele Sexualpartner zu haben, dann ist das doch ok.“ „Du liebst halt so und Liebe kann doch keine Sünde sein.“ „Sex ist ein innerer Trieb, der einen nur kaputt macht, wenn man ihn nicht auslebt. Deshalb ist es in den meisten homosexuellen Beziehungen ja auch normal, neben dem eigenen Partner noch mit anderen Männern nebenher Sex zu haben. Es geht ja in einer Beziehung mehr um die „soziale Treue“ und nicht darum mit wem ich, wann und wo auch immer, meinen Sexualtrieb befriedige. „
Alle hatten eine fertige Lösung für mich parat, für die ich doch nur einen Teil meines Selbst aufgeben muss. Für mich war das die absolute Katastrophe. Meine Gefühle waren falsch, meine Sexualität nicht erfüllend und die innere Einsamkeit aufgrund meiner Unfähigkeit Beziehungen zu gestalten eben mein Problem. Mein Selbstwert war am Boden und ich hatte keine Ahnung wer oder was ich eigentlich bin.
In dieser Verzweiflung bin ich dann auf eine Organisation gestoßen, bei der ich ein offenes Ohr fand und die mir das Ergebnis der Beratung nicht vorschrieben. Dort wurde mir zu allererst mal zugehört. Ich habe erzählt wie es mir geht, was ich erlebe und wie sich das anfühlt. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich ernstgenommen und verstanden. Bald war mir klar, dass mir hier keine schnelle Hilfe angeboten wird, sondern ein Prozess, der mir hilft mein Leben nachhaltig und ganzheitlich aktiv gestalten zu können. Keine fertige Lösung, sondern ergebnisoffene Beratung, durch die ich zu einem selbstverantwortlichen und selbstbehauptendem Mannsein geführt werde.
Durch diesen Prozess wurde mir bewusst, dass ich durch Sexualität die Beziehungserfahrung wiederhole, die sich über die Jahre des Missbrauchs ausgeprägt hatte. Ich verwendete Sexualität, um überhaupt Beziehungen haben zu können. Ich unterwarf mich, ließ mich benutzen, um Nähe erleben zu können. Ich brauchte Sexualität wie eine Sucht, um überhaupt das Gefühl des Existierens in mir wahrnehmen zu können.
Das alles wurde nach und nach in kleinen Schritten durch die offene, zugewandte und verlässliche Haltung der Beratung herausgearbeitet. Durch Selbstprüfung gelang ich zu innerer Erkenntnis und die schuf in mir den Willen, an mir zu arbeiten und aus dem Gefängnis von Selbstbetrug und Sucht auszubrechen.
Was hat sich nun auf diesem Weg verändert? Nun, ich habe erkannt, dass ich ein Mensch und Mann bin, der einen Wert hat und sein Leben selbst gestalten kann und darf. Als sich dieses innere Wissen in mir verankert hat, waren plötzlich meine Depressionen und Selbstmordgedanken weg. Dieser Gewinn an Lebensqualität hat dann weitere Schritte möglich gemacht.
Während dich früher den Launen Anderer hilflos ausgesetzt war, kann ich heute eigene und fremde Emotionen trennen und muss sie nicht auf mich beziehen. Habe ich früher eine Kritik an mir als vernichtend und existenzbedrohend wahrgenommen, so kann ich heute Fehler eingestehen und dem Anderen darin begegnen. Dies führt dazu, dass ich lerne mich auf Menschen einlassen zu können und es macht mich frei Beziehungen zu wagen. Mehr und mehr kann ich meine Meinung selbstbehauptend vertreten, ohne alles relativieren zu müssen. Meine Selbstwahrnehmung verbessert sich und ich kann daran arbeiten, meine Zeit gut und sinnvoll zu gestalten.
Nein, meine sexuelle Orientierung hat sich nicht geändert. Ich kann muss heute aber Sexualität nicht mehr benutzen, um Nähe zu erhalten. Ich habe gelernt mich anderen Männern zuzumuten und aus der Gemeinschaft mit ihnen, Kraft zu ziehen. Auf diesem Weg will ich weiter gehen, weshalb ich die Unterstützung von Freunden und Familie und die Verbindlichkeit durch die Bruderschaft des Weges brauche. Hier habe ich ein Zuhause gefunden, wo ich ankommen kann und erzähle was ich erlebt habe. Ich kann mich neu sortieren und erkennen wie ich weitergehen kann. Dabei erfahre ich Hilfe, Halt, Trost, Geborgenheit und werde herausgefordert und ermutigt den nächsten Schritt zu wagen.
Das macht Mut und gibt Hoffnung.
Was ich aber nicht verstehe, ist die Ablehnung und der Hass, den ich in unserer Gesellschaft erlebe. Sowohl in der Kirche wie auch politisch. Mich und Menschen, die wie ich unter ihren homosexuellen Gefühlen leiden und diese als nicht zu sich gehörend empfinden, darf es offenbar nicht geben. Die, die wie ich aufgrund ihrer Lebensgeschichte und oder ihres Glaubens einen homosexuellen Lebensstil für sich ablehnen und für ihren Weg Hilfe suchen, werden bestenfalls ignoriert, oft jedoch diskreditiert, diskriminiert und kriminalisiert. Wir werden als radikal, fundamentalistisch und homophob gebrandmarkt und in die rechtsradikale Ecke gestellt. Wir dürfen beschimpft und beleidigt werden. Das Recht auf Menschenwürde und freie Entfaltung der Persönlichkeit wird uns verwehrt und das Recht auf freie Meinungsäußerung sowie freie Religionsausübung letztlich abgesprochen. Diesen Hass und diese Ungleichbehandlung verstehe ich wirklich nicht.
Gibt es denn da draußen in der Welt Menschen, die von mir ernsthaft verlangen, dass ich mich, mit meinem erlebten Missbrauch, weiterhin anderen Männern sexuelle hingebe, nur um einen Augenblick von meinem Schmerz erlöst zu werden? Gibt es Menschen, die lieber meine Depression und meinen Suizid in kauf nehmen, anstatt mir und meiner Geschichte zum Recht zu verhelfen?