Ich sitze auf der Steinbrüstung einer Schlossmauer hoch über dem Main. Die Sonne steht bereits tief, und die letzten Ausflugsschiffe bringen Touristen in das kleine Städtchen unten im Tal. Es ist über drei Jahrzehnte her, als ich an exakt derselben Stelle als elfjähriger Junge hier nachmittags auf der Mauer sitze und in die Kamera meines Vaters blicke. In jenem Jahr haben wir eine mehrtägige Radtour gemacht und etappenweise in Jugendherbergen übernachtet.
Ich halte das alte Foto in meiner Hand. Der Junge darauf schaut mir mit unsicheren Augen entgegen. Die Gefühle von damals sind mir noch heute präsent. Mir war unwohl auf der Radtour, ich hatte wie so oft Angst davor, irgendetwas falsch zu machen. Etwas, wofür mein Vater mich verurteilt und ablehnt. Dabei war ich ein lebendiger und cleverer Kerl, war neugierig, habe rumexperimentiert, Dinge untersucht und auch mal auseinandergebaut, um zu sehen, wie sie funktionieren. Ich höre die Stimme meines Vaters, wenn ihm etwas nicht gefiel: „Das kann ja nur dir passieren. Du bist ein Spezialist. Auf dich ist kein Verlass“. In diesem Urlaub werde ich mich an die Telefonate mit meiner Mutter klammern, der ich voll innerer Not erzähle, wie ich Papa erlebe. Sie tröstet mich dann und redet schlecht über ihn.
Drei Jahre später lassen sich meine Eltern scheiden. Die innere Distanz zwischen meinem Vater und mir wächst weiter, wohingegen die Beziehung zu meiner Mutter immer enger wird. Meine Schulzeit bestreite ich eigenständig. Bis zum Abi werden meine Noten immer besser. Es fällt mir leicht, zu lernen, und so stellt sich für mich die Gleichung auf: gute Leistungen und Perfektion = Anerkennung und Wertschätzung. Schlechte Noten werfen mich folglich aus der Bahn. Gegenüber gleichaltrigen Jungs bin ich im Teenageralter und während der Pubertät unsicher. Ich fühle mich nicht zugehörig, zweifle an mir. Raufereien und gegenseitigem Necken gehe ich ängstlich aus dem Weg, um nicht bloßgestellt zu werden. Über meinen Körper empfinde ich eine zunehmende Scham. Für Konflikte mit anderen mache ich mich letztlich verantwortlich und bleibe so mit meiner inneren Not allein. Zum Schutz vor Verletzungen und aus der großen Angst, abgelehnt und verlassen zu werden, reagiere ich bei Auseinandersetzungen abwehrend und wütend. Es fällt mir schwer, Nähe zu erleben, in meinem Kopf formieren sich Misstrauen und Vorwürfe.
Nach Abi und Zivildienst starte ich in ein Studium. Zu Beginn des ersten Semesters stirbt mein Vater an Krebs. Leider war es in den letzten Monaten seiner Krankheit nicht zu einer Annäherung zwischen uns gekommen. Im gleichen Jahr habe ich meine erste Freundin. Das stellt mich vor einen Zwiespalt, den ich bisher mir selbst gegenüber nicht formuliert habe. Wie kann ich mit ihr zusammen sein und gleichzeitig merken, dass ich homosexuelle Gefühle habe? In einer emotionalen Trennung nach ein paar Monaten bricht sich der Konflikt Bahn. Nach großer Überwindung vertraue ich mich einem Seelsorger an, der mich in den folgenden Jahren als väterlicher Freund begleiten wird. Ich möchte verstehen, was in mir abläuft, lese Bücher von Männern, denen es ähnlich geht wie mir, nutze die ergebnisoffene Beratung, besuche Männergruppen und tausche mich aus. Ich befreunde mich mit einem Mann. Die Beziehung zu ihm wird drei Jahre andauern. Noch zwei weitere lose Beziehungen zu Männern kommen hinzu.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass mich keine dieser homosexuellen Beziehungen letztlich glücklich gemacht hat. Meine innere Not bleibt unverändert. Die Verbundenheit, die ich mir zu meinem Vater gewünscht hätte, finde ich hier nicht. Ebenso wenig den inneren Halt, als Mann gesehen und wertgeschätzt zu werden. Die Nähe in den homosexuellen Kontakten ist immer wieder aufs Neue ein unbeständiger Ersatz. Ich merke: in meine Angst vor Zurückweisung, in meine Gefühle der Unzulänglichkeit und Scham, in die fehlende Verbundenheit zu anderen Männern hat sich meine Sexualität eingeklinkt. Meine homosexuellen Gefühle sind verbunden mit meiner inneren Not.
Es ist schmerzhaft, die Verletzungen anzuschauen, die aus der Beziehung zu meinem Vater und der Familiendynamik resultieren. Gleichsam war es wichtig für mich, zu erkennen, dass ich als Junge keine Schuld daran trug, und mir seine Zuwendung zugestanden hätte. Ich sehe, dass mein Vater auch seine Geschichte hat. Er wächst zunächst ohne seinen Vater auf. Dieser gerät zum Ende des ersten Weltkriegs in Gefangenschaft und kehrt erst sechs Jahre später als für ihn fremder Mann heim. Mein Vater hat mir gegenüber Fehler gemacht. Mittlerweile kann ich seine Geschichte dahinter erkennen und verstehen.
Wenn ich heute schwierige Situationen erlebe, kann ich mir von Weggefährten und Männern aus meinem Freundeskreis Rat holen und erhalte Rückhalt. Ich kann darauf vertrauen, dass sie da sind und sich nicht abwenden, auch wenn ich einen Fehler mache.
Wenn ich in meinem Alltag einen anderen Mann als ablehnend erlebe, kann es schnell passieren, dass ich in meine Denkmuster von Vorwurf und Misstrauen verfalle. Hier habe ich beispielsweise gelernt, innezuhalten und kurz zu überlegen, was die Beweggründe für das Verhalten des anderen sein könnten. Möglicherweise erfahre ich sie nicht direkt. Manchmal gibt es die Situation aber auch her, nachzufragen. Und es stellt sich heraus, dass die Gründe außerhalb liegen. Ich erlebe, dass sich meine alte Verletzung gemeldet hat. Ich kann aber in neuer Weise reagieren und mich dadurch mit dem anderen Mann verbinden. Krass ist, dass dann auch meine homosexuellen Gefühle an Kraft verlieren und etwas in mir zur Ruhe kommt.
Für Mentoren und Weggefährten, besonders für die erfahrende ergebnisoffene und professionelle Beratung, bin ich sehr dankbar. Auch weiterhin möchte ich den Umgang mit meiner Sexualität selbstbestimmt wählen können und nicht affirmativ in einen Lebensstil gedrängt werden.
Die Sonne berührt in der Ferne bereits den Horizont. Ich schaue auf das alte Foto und sehe mich als Elfjährigen. Dieser Junge mit seiner Geschichte lebt in mir. Für ihn möchte ich heute sorgen. Ich verstaue das Foto in meiner Tasche und mache mich auf den Weg.